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Totentanz | Konzert zum Ewigkeitssonntag 2024 | Prolog von Peter Kopp


19. November 2024

Totentanz – Konzert zum Ewigkeitssonntag 2024: Die kirchenmusikalische Erneuerungsbewegung der 1930er Jahre in Deutschland war eine der Reaktionen auf die zunehmende Säkularisierung nach dem 1. Weltkrieg und entsprang zudem dem Wunsch nach einer authentischen, spirituell tiefgehenden Kirchenmusik. Die geistliche Musik der Spätromantik hatte sich inhaltlich und formal immer mehr vom liturgischen Gebrauch entfernt.

Ein zentraler Aspekt für diese Erneuerung war die Rückbesinnung auf alte Musiktraditionen, insbesondere die Gregorianik und die polyphone Vokalmusik der Renaissance und des Frühbarock. Gleichzeitig wurden neue Kompositionen angestrebt, die sich durch eine klare, schlichte und dennoch ausdrucksstarke Musiksprache auszeichneten. Die Bewegung hatte nachhaltigen Einfluss auf die liturgische Praxis und das Repertoire der Kirchenchöre und prägte die kirchenmusikalische Landschaft bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Als eine der Ursachen für die in den letzten Jahrzehnten nachlassende Akzeptanz der in diesem Zuge entstandenen Musik ist sicher auch die ambivalente Verbindung zu sehen, welche die im Grunde progressive Kirchenmusikbewegung mit dem nationalsozialistischen Machtapparat eingegangen war. Es ist nicht zu verkennen, dass sich einige von ihren Idealen zumindest anfangs mit denen der politischen Umwälzung zu decken schienen: der Wille zu Klarheit, Entschiedenheit, maßvoller Erneuerung unter Berufung auf die vor allem deutsche Musikgeschichte, so genannte Volksnähe.

Zum Kulminationspunkt der Anbiederung an das zur Diktatur gewordene System wurde das Fest der deutschen Kirchenmusik im Oktober 1937, in dessen Eröffnungsrede es u. a. hieß: „Die Kirchenmusik ist der frohen Überzeugung, dass sie dem neuen Deutschland Adolf Hitlers einen wichtigen Dienst zu leisten schuldig und berufen ist.“ Entsprechend verhielten sich führende Repräsentanten des neu gegründeten Reichsbundes für evangelische Kirchenmusik. Zu den am prominentesten vertretenen Komponisten, deren Werke im Rahmen des Festes uraufgeführt wurden, gehörten auch Ernst Pepping und Hugo Distler.

Hugo Distler: Totentanz >>

Die in den Folgejahren zunehmenden Demontageversuche des NS-Staates gegenüber der Kirche ließen möglicherweise bei Einzelpersonen und im privaten Rahmen Zweifel an der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges aufkommen, die generelle Linie der nunmehr Reichsverband genannten Kirchenmusikervertretung änderte sich jedoch nicht. Nach Kriegsende sah man sich rückblickend ausschließlich in einer Opferrolle, Hugo Distler wurde, vor allem angesichts seines Freitodes, die Bedeutung eines Märtyrers angedichtet. Erst seit den späten 1970er Jahren wird die Rolle der Kirchenmusikalischen Erneuerungsbewegung kritisch beleuchtet und teilweise aufgearbeitet.

Die heute erklingenden Stücke aus den 1930er Jahren sind herausragende Kunstwerke, die über viele Jahrzehnte Menschen zu berühren vermochten und dies noch immer vermögen. Mit der Einordnung in die Kontexte ihrer Entstehung tut man ihnen weder Unrecht noch Abbruch. Eine Beurteilung aus historischer Distanz sollte mit nötiger Genauigkeit, aber auch mit Respekt erfolgen. Aus den Erfahrungen der Geschichte kann und sollte der Blick auf die Gegenwart geschärft werden.

Ernst Pepping (1901–1981) hatte als Komponist und Pädagoge großen Einfluss nicht nur auf die Entwicklung der Kirchenmusik, sondern auch auf die anderer musikalischer Genres. Er kombinierte traditionelle musikalische Elemente mit modernen Techniken, blieb dabei der tonalen Kompositionsweise jedoch immer verbunden. Sein dreiteiliges Chorwerk Ein jegliches hat seine Zeit entstand 1937 und wurde beim Fest der deutschen Kirchenmusik in Berlin uraufgeführt.

Der vertonte Text entstammt der Bibel (Buch Prediger 3), der die verschiedenen Zeiten und Phasen des Lebens thematisiert. Neben seiner Matthäus-Passion, den Drei Evangelien-Motetten und dem Zyklus Heut und ewig gehört das Stück zu den bedeutendsten Chorwerken des Komponisten.

Weitestgehend gleiche Kompositionsprinzipien treffen auch auf Hugo Distlers (1908–1942) Motette (besser: Zyklus) Totentanz zu, die 1934 in Lübeck entstand. Distlers Chorsatz ist gegenüber dem Peppings weniger formgebunden, dafür etwas aufgefächerter und madrigalhafter. Die Besonderheit des Werkes liegt in der Verbindung der Musik mit Lese- bzw. Spieltexten. Die Vorlage dafür lieferte der Lübecker Lehrer Johannes Klöcking (1883–1951), indem er Teile der nur bruchstückhaft überlieferten Texte des Lübecker Totentanzes von 1463, einem mit Versen unterlegten Bilderfries, in eine moderne Sprache übertrug.

Ob die korrespondierende Ergänzung mit Versen aus dem Cherubinischen Wandersmann von Angelus Silesius (1624–1677) auf seine Initiative erfolgte oder eine Idee des Komponisten war, ist nicht bekannt. Distler war bei der Komposition des Werkes stark von den Deutschen Sprüchen von Leben und Tod von Leonhard Lechner (1553–1606) inspiriert, die er kurz zuvor kennengelernt hatte.

Unklar sind die Umstände der Ergänzung der Flöten-Variationen über das alte Volkslied Es ist ein Schnitter, heißt der Tod, deren Manuskript erst 1976 wiederentdeckt wurde. Bislang wurde angenommen, sie seien für eine spätere Aufführung des Werkes im Herbst 1937 komponiert worden. Inzwischen gibt es Hinweise, dass sie möglicherweise schon eher existierten, vielleicht sogar bei der Uraufführung gespielt wurden. Die kurzen Epigramme für Solo-Flöte fügen dem Werk eine dritte, abstrahierende Ebene hinzu.

Zu den Werken, die Distler, Pepping und ihren Kollegen als Inspiration hätten gedient haben können, gehören auch die von Sethus Calvisius (1556–1615). Der spätere Thomaskantor zu Leipzig galt seinen Zeitgenossen nicht nur als Komponist und Musiktheoretiker, sondern auch als Mathematiker und Astronom als Koryphäe. Seine doppelchörige Motette Unser Leben währet siebnzig Jahr auf einen Vers aus Psalm 90 gilt als seine letzte Komposition und erscheint wie der Rückblick ihres Schöpfers auf sein interessantes, arbeitsreiches und vermutlich erfolgreiches Leben – welches 70 Jahre jedoch nicht erreicht hat.

Dem Schweizer Komponisten Willy Burkhard (1900–1955) kommt als Schöpfer von Chorwerken eine ebenso große Bedeutung zu wie Distler oder Pepping. Seinem sehr vielseitigen und durchaus erfolgreichen musikalischen Schaffen ist jedoch ein stärkerer Einfluss französischer Elemente anzumerken. Zum Ausklang erklingt ein Kleinod aus seinem inspirierenden Instrumentalschaffen.

Peter Kopp

Hugo Distler, Totentanz
Hugo_Distler (c) Karl Schweinsberg – Barbara Distler-Harth