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Bachs Weihnachtsoratorium – die erstaunliche Erfolgsgeschichte


4. Dezember 2024

Die Geschichte des Weihnachtsoratoriums: Auch große Geister können sich irren. Der Theologe, Musikwissenschaftler und spätere „Urwalddoktor“ Albert Schweitzer glaubte vor ungefähr hundert Jahren nicht daran, dass sich Bachs Weihnachtsoratorium im Repertoire von Chören und Orchestern durchsetzen würde.

Er sollte nicht recht behalten. Heute ist das Stück das mit Abstand beliebteste Sakralwerk des ehemaligen Leipziger Thomaskantors und Stadtmusikdirektors Bach, von vielen – hauptsächlich mitteldeutschen Musikerinnen und Musikern – wird es liebevoll nur als „WO“ abgekürzt…. 

Von der „Gebrauchsmusik“ zum meist aufgeführten Sakralwerk Bachs – die erstaunliche Erfolgsgeschichte des Weihnachtsoratoriums

Doch wieso ist Bachs Weihnachtsoratorium eigentlich so populär? Zunächst weil es eine hoch theatralische Musik ist. Das beginnt schon beim Eingangschor der ersten Kantate „Jauchzet, frohlocket“ mit den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten. Bach hat diesen Eingangschor jedoch ursprünglich gar nicht für das Weihnachtsfest komponiert, sondern für einen rein weltlichen Anlass, nämlich den Geburtstag von Maria Josepha, Kurfürstin von Sachsen und Königin von Polen, also der Gemahlin von Friedrich August II., dem Sohn Augusts des Starken. Insofern hat das Weihnachtsoratorium schon von seiner Entstehung her einen deutlichen Dresden-Bezug.

Stichwort „theatralisch“: Die sechs Kantaten bilden in gewisser Weise eine geistliche Oper, denn Oper und Oratorium haben ja die gleichen Wurzeln. Es wird die Geschichte der Geburt Jesu erzählt mit allen dramatischen Höhepunkten. Die Arien und Chöre verstärken diese Höhepunkte ganz passend: Man denke an den Chor der Engel „Ehre sei Gott in der Höhe“ in der zweiten Kantate oder die wunderbare Alt-Arie „Schlafe mein Liebster“, in der quasi Maria den Jesusknaben in den Schlaf singt. Verständlicherweise kommt Albert Schweitzer zu dem Schluss, dass es unklug sei, das ganze Werk, sprich alle sechs Kantaten an einem Abend aufzuführen, da „der übermüdete Hörer die Schönheiten nicht mehr zu fassen vermag“.

Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium
Johann Sebastian Bach, 1746, Elias Gottlob Haußmann

Johann Sebastian Bach selbst hat nie daran gedacht, alle sechs Kantaten komplett aufzuführen, er hat sie konzipiert als Musik für die Gottesdienste in den Leipziger Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai. Die Weihnachtsgeschichte der biblischen Evangelien wurde aufgeteilt auf die drei Weihnachtsfeiertage – zu Bachs Zeiten gab es in Leipzig noch einen dritten -, auf das Neujahrsfest, der Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest am 6. Januar.

In diesen Gottesdiensten waren die Kantaten die Musik vor der Predigt, also reine „Gebrauchsmusik“, ausgeführt vom Thomanerchor und städtischen Musikern. „Nicht nur auf die geistlichen Anlässe musste Bach Rücksicht nehmen, sondern immer wieder auch darauf, was den Chören und Ensembles zuzumuten war“, betonte der 2016 verstorbene Schriftsteller Klaus Seehafer in einem Essay zum Weihnachtsoratorium. „Er kannte die Stärken und Schwächen der einzelnen Sänger sehr genau, was sich schon am Schwierigkeitsgrad bestimmter Stimmführungen erkennen lässt. Er konnte auf insgesamt vier Kantoreien bzw. Chöre zurückgreifen, die aus jeweils acht Sängern bestanden. Jede Stimme war also nur zweifach besetzt. Was für ein Unterschied zu den gewaltigen Festaufführungen von heute!“

Als „Gebrauchsmusik“ sind die sechs Kantaten verständlicherweise nach der „Uraufführung“ relativ bald von der Bildfläche verschwunden, und das für eine ziemlich lange

Zeit. Im 19. Jahrhundert hat man von den Sakralwerken Bachs ausschließlich die Passionen und die h-moll-Messe aufgeführt, das Weihnachtsoratorium blieb vergessen. Auch wenn es im Umkreis von Felix Mendelssohn Bartholdy, der ja als erster mit der Singakademie zu Berlin die Matthäuspassion wiederaufgeführt hat, erste Impulse zu dessen Wiederentdeckung gab.

Am 17. Dezember 1857, zehn Jahre nach Mendelssohns Tod, führte der Leiter der Berliner Singakademie Eduard Grell alle sechs Kantaten als abendfüllendes Werk auf – die erste verbürgte Aufführung nach Bachs Tod! Doch das setzte die Renaissance des Werks noch lange nicht in Gang. Im Musikverständnis des 19. Jahrhunderts ging man nämlich davon aus, dass „richtige Genies“ nur große abendfüllende Werke schaffen. Und in der Tat wirken sechs halbstündige „Gebrauchsmusiken“ im Vergleich zu Beethovens Neunter oder gar Wagners „Ring des Nibelungen“ weniger „genial“. Bis noch in die 1950er Jahre war in der musikwissenschaftlichen Fachliteratur zu lesen, dass Bachs Weihnachtsoratorium im Verhältnis zu h-Moll-Messe und den Passionen von „minderer Qualität“ sei….

Der Impuls für die Wiederentdeckung des Werkes kam aus Kreisen innerhalb der sogenannten „Jugendbewegung“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die jungen Leute wollten nicht nur „aus grauer Städte Mauern“ hinaus in die vermeintlich unverdorbene Natur wandern, sondern sich auch vom damals etablierten Konzertbetrieb mit seinen Mammutwerken, etwa Gustav Mahlers riesigen Sinfonien, absetzen.

So wurde das Weihnachtsoratorium interessant. Überall in den 1920er Jahren gab es in den Großstädten des Deutschen Reiches Aufführungen, die durch jugendbewegte Kirchenmusiker auf die Beine gestellt wurden. So setzte es sich besonders in den Kirchgemeinden durch. In der „Bachstadt“ Leipzig fiel das ganze auf besonders fruchtbaren Boden. Hier gibt es heute statistisch gesehen in jeder Adventszeit deutschlandweit die meisten Aufführungen. Aber generell hat sich das Werk zur am meisten aufgeführten Sakralkomposition Bachs überhaupt entwickelt.

Seit 1967 führt der Dresdner Kreuzchor die ersten drei Kantaten des Weihnachtsoratoriums alljährlich im Advent auf und die Kantaten 4-6 dann im Januar. Nicht zuletzt durch diese Aufführungen wurde der ehemalige Kruzianer und spätere Tenor Peter Schreier geradezu zum Inbegriff des Bach-Evangelisten. Ein Schüler Schreiers, der leider viel zu früh 2023 verstorbene Tenor Martin Petzold, hat in seinem Sängerleben diese Partie über 300 Mal gesungen, u. a. 2012 auch in der Kreuzkirche. Im Interview sagte er mir einmal, dass das in seinem Leben „eines der größten Geschenke“ war. So wird die erstaunliche Erfolgsgeschichte dieser ursprünglichen „Gebrauchsmusik“ auch emotional spürbar.

Claus Fischer (MDR)

Johann Sebastian Bach, Weihnachtsoratorium