Prolog zum Weihnachtsoratorium 2025 | Dresdner Traditionen und Lesarten
7. Dezember 2025
Bach, Weihnachtsoratorium mit dem Dresdner Kreuzchor: Den Dauerstress der Vorweihnachtszeit ließ sich der Kreuzkantor bei unserem Treffen im Kreuzgymnasium vor einigen Tagen nicht anmerken. Der Auftritt des Kreuzchores beim ZDF Adventskonzert stand unmittelbar bevor, die Weihnachtsliederabende, die traditionelle kleine Adventstournee ans Konzerthaus Berlin, das „Große Adventskonzert“ im Fußballstadion standen an. Aber eins nach dem anderen, jetzt erst einmal ein Käffchen, ein Schokoherz – und die Erinnerungen an die eigene Kruzianerlaufbahn. „Gerade in der Advents- und Weihnachtszeit hat sich im Vergleich zu meiner eigenen Kinderzeit sehr wenig geändert,“ resümiert Martin Lehmann.
Weihnachtsoratorium in der Kreuzkirche Dresden
Die Weihnachtsliederabende, die Proben für die Vespern und Metten, das ist alles noch so wie vor mehr als vierzig Jahren, als der Knabe Martin zum allerersten Mal die Choräle des Weihnachtsoratoriums mitsingen durfte. „Ich war fürchterlich aufgeregt und hatte genauso viel Lampenfieber wie die heutigen Drittklässler“, sagt der Kantor lächelnd. „Die Länge des Oratoriums! Das tapfere Durchhalten… Und die ersten Orchesterproben, wo man eigentlich gar nicht richtig singen kann, weil man erst mal die Instrumente im Orchester bestaunt. Und vor allem erinnere ich mich an die langen Schlangen vor der Kreuzkirche. Das hat sich mir eingebrannt.“

Ja, ist es nicht eigentlich erstaunlich, wie sehr wir Dresdner dieses Werk von Johann Sebastian Bach lieben, das schon in wenigen Jahren sein dreihundertjähriges Jubiläum feiern wird? Es gehört wie selbstverständlich zur Vorweihnachtszeit dazu: Wir holen alljährlich die Pyramide aus der Pappkiste, stellen die kleinen Kurrendesänger aufs Klavier, die Kinder bauen den Herrnhuter Stern aus seinen kleinen und großen Zacken zusammen.
Und auf dem Plattenteller dreht sich immer noch eine legendäre Aufnahme, die nun selbst schon ein halbes Jahrhundert alt ist: das Weihnachtsoratorium mit Kreuzchor und Dresdner Philharmonie, dirigiert vom Kreuzkantor Martin Flämig, mit Peter Schreier, Theo Adam, Arleen Augér und Annelies Burmeister als Solisten. Ludwig Güttler an der Ersten Trompete, Eckart Haupt als Soloflötist, Kreuzorganist Herbert Collum an der Continuo-Orgel.
Jeder Ton dieser festlich-gravitätischen Aufnahme von 1974/75 ist unserem Gedächtnis eingebrannt; sie ist ein wichtiger Meilenstein, der nicht zuletzt Zeugnis ablegt von der musikalischen Aufführungstradition des Kreuzchores. Ein mattgoldenes Leuchten liegt über dieser Einspielung, die einen andächtig werden lässt. „Schaut hin, dort liegt im finstern Stall…“, intonieren weich die Kruzianer. „Herrscher des Himmels, erhöre das Lallen“, „Höre der Herzen frohlockendes Preisen, wenn wir dir itzo die Ehrfurcht erweisen, weil unsre Wohlfahrt befestiget steht“ – diese Bitte tragen die Kruzianer unter Flämig in gemessenem, ‚befestigtem‘ Tempo und wohlgesetzten Schritten vor.

Welche musikalischen Farben und Ausdeutungen im Weihnachtsoratorium in den Vordergrund rücken, das hängt von der Beleuchtung der Musik durch die Aufführenden ab. Chor und Orchester können wie zu Flämigs Zeiten durch Andacht und Mächtigkeit betören. Es sind in der langen Aufführungsgeschichte des Werks auch immer wieder Interpretationen mit deutlich kleineren Besetzungen bis hinunter zum reinen Solistenquartett belegt.
Die Tempi haben in den letzten Jahrzehnten deutlich angezogen – ist ja nur logisch, wenn Chor und Orchester weniger in salbungsvollen Riesenbögen denken, sondern der gesungenen „Rede“ (und der natürlichen Klangrede der solistisch agierenden Instrumente) mehr Beachtung schenken. So erklingt vielleicht eine Strophe des Chorals „Brich an, du schönes Morgenlicht“ in einer sinnlichen Holzbläser-Variante, und die frohen Hirten eilen, ach eilen in jüngeren Jahren vielleicht etwas aufgeregter, endlich das holde Kind zu sehen.
Auch am Text selbst wird manchmal geschraubt. „Tönet ihr Pauken! Erschallet, Trompeten!“, schmetterte der Chor am Anfang einer WO-Aufnahme unter Martin Lehmanns Windsbacher Amtsvorgänger Karl-Friedrich Beringer zu Beginn der ersten Kantate. Auf diesen Text ist die weltliche Glückwunschkantate komponiert, die Bach 1733 zum Geburtstag der sächsischen Kurfürstin aufführte. Martin Lehmann hat sich entschieden, in Dresden die Soprane nach oben zu oktavieren, um das Jauchzen, das Jubeln und Frohlocken stimmlich authentischer abzubilden.

Auch, was die Besetzungsgröße und die Aufstellung der Mitwirkenden angeht, probierten die Kreuzkantoren immer wieder neue Zugänge und Lesarten aus. 1936, so ist es in dem damaligen Programmblatt der Aufführung in der Kreuzkirche abgedruckt, wurde „das Weihnachtsoratorium (…) erstmalig in neuer Gestaltung aufgeführt. Das Evangelium wird durch den Liturgen vom Altarplatz aus (Begleitung durch das 1. Positiv) gesungen, während die übrige Musik des Werkes von der Chorempore aus geboten wird.“ In den 1950er Jahren ließ Kreuzkantor Rudolf Mauersberger die Sopranpartie von einem Kruzianer singen.
In der Zwischenzeit hat es sich wieder durchgesetzt, den Chor vorn am Altar zu positionieren und die Sopranpartie von einem Frauensopran singen zu lassen. Diese Lesart des Werkes trägt den Erwartungen des Publikums Rechnung, bei dem visuelle Aspekte wahrscheinlich eine größere Rolle spielen als noch bei Mauersberger. Viel wichtiger indes: Sie wird der Akustik des riesigen Kirchenraums besser gerecht, sei er auch bis hinauf in die oberste Empore besetzt.
So ist es immer wieder reizvoll, Kreuzkantor und Chor Jahr für Jahr durch die verschiedenen Lesarten des Bachschen Weihnachtsoratoriums zu begleiten. Der freundlich-warme, von den tieferen Registern grundierte Klangfluss vergangener Jahrzehnte ist unter Martin Lehmann einem lebendigen, in allen Registern ausbalancierten Dialogisieren gewichen. Und vielleicht entdecken Sie dieses Jahr ja schon wieder ganz neue Schwerpunkte in der Ausdeutung von Wort und Ton?
im Dezember 2025, Martin Morgenstern