Brahms Requiem 2024 in Dresden | „Emotionale Spannung“ | Claus Fischer
5. November 2024
Brahms Requiem 2024 in Dresden – eine Einstimmung von Claus Fischer (MDR): „Wie lieblich, sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth…“ – es war eine Offenbarung! Mit sechzehn Jahren, am Ewigkeitssonntag 1983, hatte ich zum ersten Mal die Möglichkeit, den vierten Satz aus dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms mitsingen können – nicht von einem Orchester, sondern schlicht von einer Orgel begleitet. Es war kein besonderer Chor in dem ich mitsang, sondern die Kantorei der evangelischen Kirche in der Kleinstadt Hockenheim in Nordbaden, wo ich aufgewachsen bin. Dennoch – diese Musik hat mich damals absolut gefangengenommen und seitdem nie wieder losgelassen. Vielleicht war es kein Zufall, dass der damalige Kantor der Hockenheimer Kirche Ludwig-Günter Mohrig aus Dresden stammte und in seiner Jugend Kruzianer war. Er hatte seine musikalische Grundausbildung in den 1930er Jahren also in jenem Chor erfahren, der schon damals regelmäßig das Brahms’sche Requiem aufgeführt hat. Und ich spürte, wie gut Mohrig jede Note abgespeichert hatte und wie er uns dadurch vermittelte, wieviel Gehalt in dieser Musik steckt.
Zwei Jahre nach diesem Erlebnis, 1985, ich war gerade 18 geworden, fuhr ich zum ersten Mal in meinem Leben in die DDR, und kam auf dieser Reise auch nach Dresden. Im damals volkseigenen „Kunstsalon am Altmarkt“ konnte ich meine zwangsumgetauschten Ostmark ausgeben. Und ich weiß noch genau: In meinem übervollen Rucksack befanden sich nach dieser „Konsumorgie“ unter anderem eine Doppel-LP – soweit ich mich erinnern kann eine ungarische Aufnahme -, sowie ein Klavierauszug des „Deutschen Requiems“ von Johannes Brahms. So konnte ich endlich sowohl optisch als auch klanglich ganz in dieses Werk eintauchen. Die beiden Schallplatten sind mir irgendwann leider abhandengekommen, aber der Klavierauszug mit dem charakteristischen grünen Rahmen steht nach wie vor in meinem Regal und später konnte ich dann auch das komplette Werk mehrmals in verschiedenen Chören mitsingen…
Brahms Requiem Aufführung 2024 in Dresden
„Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms ist genau genommen gar kein Requiem. Denn dieser Begriff steht eigentlich singulär für die römisch-katholische Totenmesse, die einem festgelegten, textlichen Ablauf folgt, der nicht veränderbar ist. Brahms brauchte sich an diese Abfolge allerdings nicht zu halten, denn er war ja ein Hamburger Lutheraner. Und er blieb das auch während seiner langen Jahre im katholischen Wien. Dass er nicht nur die Musik, sondern auch die biblischen Texte für sein Werk selbst ausgesucht hat, ist der offensichtlicher Ausdruck seiner protestantischen Sozialisation. Er stand damit in einer Tradition, die bereits im Jahrhundert nach der Reformation begonnen hat. Die erste bedeutende evangelische Trauermusik, die „Musicalischen Exequien“ des Dresdner Hofkapellmeisters Heinrich Schütz, sind ebenfalls keine Vertonung des römischen Requiems. Sondern in ihnen werden, wie später Brahms es auch tun wird, unterschiedlichste Texte der Bibel, sowohl aus dem Alten als auch dem Neuen Testament miteinander verbunden. Es handelt sich um jene Bibelsprüche, die der ursprüngliche Landesherr von Schütz, Fürst Heinrich Posthumus Reuß, auf seinen Sarkophag schreiben lies. Heinrich Schütz brachte diese Verse in eine schlüssige Reihenfolge und vertonte sie. Das Ergebnis ist eine eindrückliche musikalische Meditation über den Tod, die Auferstehung und das ewige Leben. Damit wird nicht nur des verstorbenen Menschen gedacht, sondern werden zugleich die anwesenden Gläubigen durch die Musik getröstet. Und dieser ur-evangelische Konzept ist auch für Johannes Brahms bestimmend. Als Protestant kannte er seine Bibel und hatte genaue Vorstellungen von den Texten, die er vertonen wollte und deren tröstender Wirkung auf das Publikum.
Als Brahms 1861 mit der Komposition begann, hatte er die Idee eines geschlossenen deutschen Requiems bereits im Kopf, aber er war so beschäftigt, dass sich das Projekt über acht Jahre hinzog. Umso erstaunlicher ist es, dass das Werk für uns heute wie aus einem Guss wirkt. So kann man davon ausgehen, dass Brahms bei der Konzeption von Anfang an ein dramaturgisches Konzept verfolgt hat.
Die erste Gesamtaufführung „Deutschen Requiems“ mit Orchester fand im Februar 1869 in Leipzig statt, jener Stadt in der die Verlage saßen, in denen Brahms die meisten seiner Werke herausgebracht hat. Es mag heute erstaunen, dass die ehrenvolle Aufgabe einem Laienensemble, nämlich dem Gewandhauschor zuteilwurde, in dem allerdings etliche der Verlagsmitarbeiter sangen. Das Publikum reagierte wohlwollend, aber wohl nicht enthusiastisch. Doch von Aufführung zu Aufführung steigerten sich die Reaktionen, wozu wohl auch die geradezu enthusiastische Würdigung des Werkes durch Clara Schumann entscheidend beigetragen hat: „Es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig anderes. Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend.“ Clara Schumanns Begeisterung wird bis heute von zahlreichen Musikerinnen und Musikern geteilt, und das besonders in Sachsen, wo „Ein deutsches Requiem“ in vollständiger Gestalt mit Orchester erstmals zur Aufführung kam. So beschreibt Enrico Langer, Kirchenmusikdirektor in Annaberg-Buchholz, das Einmalige von Brahms‘ Komposition: „Die emotionale Spannung, die einen durch alles führt, was den Menschen ausmacht und seine letzten Dinge beschreibt.“
Claus Fischer (MDR)