Eher stiefmütterlich behandelt – der zweite Teil von Bachs Weihnachtsoratorium
3. Januar 2025
Bachs Weihnachtsoratorium: „Das Weihnachtsfest ist lang. Es beginnt in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember. Es endet je nach Konfession an unterschiedlichen Tagen. In der römisch-katholischen Kirche wurde das Ende im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) auf das Fest der „Taufe des Herrn“, d.h. den Sonntag nach „Epiphanias“ oder „Heilige drei Könige“ gelegt. Davor markierte das Fest „Darstellung des Herrn“ am 2. Februar, im Volksmund „Mariä Lichtmess“ genannt, den weihnachtlichen Kehraus. Im Luthertum ist das bis heute so geblieben. Deshalb wird z. B. in traditionsbewussten Familien des Erzgebirges dann auch erst „abgelichtelt“, sprich werden die Schwibbögen wieder auf dem Dachboden oder im Keller eingelagert. Zu Johann Sebastian Bachs Zeiten war das genauso. Und so gehört der zweite Teil seines Weihnachtsoratoriums in diese Phase der Weihnachtszeit. Streng genommen dürfte man diese drei Kantaten also erst ab Neujahr aufführen…
Der zweite Teil des Weihnachtsoratoriums und sein Platz in der Liturgie der Bachzeit
Nach dem liturgischen Kalender der lutherischen Kirche in Bachs Leipziger Jahren ist der 1. Januar nicht nur der weltliche Neujahrstag (das Kirchenjahr hat beiderseits am ersten Advent begonnen), sondern auch das Fest der Beschneidung und Namensgebung Jesu. Für diesen Tag ist die vierte Kantate bestimmt. Ihr Eingangschor ermuntert die Gemeinde in den Leipziger Hauptkirchen zum Loben und Danken für den Erlöser der Welt. Ein absoluter Edelstein ist die „Echo-Arie“ für zwei Soprane, in der das zukünftige Heilsgeschehen meditiert wird. Womöglich nimmt Bach, der ja ein exzellenter Kenner der Bibel war, Bezug auf eine Stelle im fünften Kapitel des Matthäusevangeliums, wo Christus sagt: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“
Aufführung mit dem Dresdner Kreuzchor in der Kreuzkirche Dresden >>
Die fünfte Kantate dürfte die unbekannteste des Weihnachtsoratoriums sein. Sie ist bestimmt für den Sonntag zwischen Neujahr und Epiphanias, den es im Jahr der Uraufführung 1735 gegeben hat, so wie auch in diesem neuen Jahr 2025. Der Eingangschor „Ehre sei dir, Gott, gesungen“ spiegelt in seiner Lebhaftigkeit die Freude über die bevorstehende Erscheinung des Herrn wider. Ganz im Sinne des Oratoriums als einer „geistlichen Oper“ tritt uns der König Herodes vor Augen, der vor dem neugeborenen Jesus erschrickt und in der Folge den Kindermord in Bethlehem befiehlt…
Mit der sechsten und letzten Kantate schlägt Bach den Bogen zurück zur ersten. Der Eingangschor ist eine deutliche Referenz an das „Jauchzet, frohlocket“ – mitsamt den sprichwörtlichen Pauken und Trompeten. Der für uns heute etwas martialische Text „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben, so gib, dass wir im festen Glauben nach deiner Macht und Hilfe sehn“ greift ein Sujet aus dem biblischen Buch der Psalmen auf, das dort immer wieder vorkommt und das sich auch in Martin Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ findet. Der „alt böse Feind“ hat bei Christian Friedrich Henrici, genannt Picander, dem wahrscheinlichen Textdichter, allerdings „scharfe Klauen“. Im Laufe der Handlung erscheinen die heiligen drei Könige an der Krippe und bringen dem Jesuskind ihre Gaben dar. Die Gemeinde antwortet auf dieses Geschehen mit dem wahrscheinlich anrührendsten Choral des ganzen Weihnachtsoratoriums „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“. Am Ende steht dann wieder der Triumph: die Feinde sind überwunden. „Tod, Teufel, Sünd‘ und Hölle sind ganz und gar geschwächt. Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.“
Die sechs Kantaten – trotz allem ein abgeschlossener Korpus
Der zweite Teil des Weihnachtsoratoriums wird im Vergleich zum ersten eher stiefmütterlich behandelt, auch wenn es heutzutage unzählige Aufführungen des Gesamtwerks gibt. Allerdings ist „1-3“ in jedem Fall die quantitativ weit häufigere Variante in Kirchen und Konzertsälen. Bach selbst hat, das können wir sicher sagen, weder die Kantaten 1-3, geschweige denn 1-6 als Zyklus aufgeführt. Aber – das lässt sich aus der Partitur deutlich ersehen – er hat die sechs Kantaten dennoch als ein Ganzes betrachtet. Womöglich hat er sogar daran gedacht, dass spätere Generationen eine komplette Aufführung einmal in Angriff nehmen könnten. Der dramaturgische „rote Faden“ ist jedenfalls deutlich spürbar. Das reicht von der relativ einheitlichen Besetzung des Orchesters bis zur Platzierung der Choräle an emotional aufgeladenen Stellen der Handlung. Diese Choräle wurden von der Gemeinde gesungen, die damit aktiver Teil der Handlung war.
Von Camille Saint-Säens bis Matthias Drude – Bachs Weihnachtsoratorium als Inspirationsquelle
Dass Bach mit seinem Weihnachtsoratorium ein Gesamtkunstwerk schaffen wollte und ihm das absolut gelungen ist, bestätigen eine ganze Reihe späterer Kompositionen, die nachweislich dadurch beeinflusst worden sind. Das beginnt bereits rund zwanzig Jahre nach dem Tod des Leipziger Thomaskantors und Stadtmusikdirektors. Da brachte der Magdeburger Stadtmusikdirektor Johann Heinrich Rolle sein rund einstündiges Weihnachtsoratorium zur Uraufführung, das stilistisch stark mit Kompositionen des zweitältesten Bach-Sohns Carl Philipp Emanuel verwandt ist und damit schon die beginnende Wiener Klassik erahnen lässt.
Im 19. Jahrhundert schrieb der junge Camille Saint-Säens in Paris sein halbstündiges „Oratorio de Noël“. Über die Partitur setzte er die Worte „dans le style de Bach“ – im Stil von Bach. Die Musik ist allerdings in bestem Sinne französisch („parfumé“).
Eines der jüngsten Weihnachtsoratorien entstand in den Jahren 1996 und 1997 in Dresden. Der Komponist Matthias Drude, heute Professor an der Hochschule für Kirchenmusik, ließ sich vor allem in der Struktur des Werkes von Bach inspirieren, die Tonsprache ist jedoch als „gemäßigt-modern“ zu bezeichnen.
Aus den drei genannten Beispielen lässt sich ersehen, wie recht Johannes Brahms hatte, wenn er schrieb: „Studiert Bach, dort findet ihr alles!“