Bach: Weihnachtsoratorium Kantaten 4-6 | „Schnaubende Feinde, kämpfende Töne“
27. Dezember 2025
Bachs Weihnachtsoratorium – eine Werkeinführung von Martin Morgenstern: Unsere Tage sind angefüllt gewesen mit immer neuen musikalischen Höhepunkten. Das Bachsche Weihnachtsoratorium (Kantaten 1 – 3), Christmette, Beethovens „Neunte“ im Kulturpalast oder in Radebeul, Silvesterkonzert der Staatskapelle, vielleicht haben Sie auch das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker unter dem dirigentischen Tausendsassa Yannick Nézet-Séguin im Fernsehen verfolgt. Die musikalische Weihnachtssaison endet allerdings traditionell erst um das Epiphaniasfest am Januar herum, mit der Aufführung des zweiten Teils des Weihnachtsoratoriums.
„Erst als Schulkind bemerkte ich, dass es tatsächlich Menschen gab, die Bachs Musik nicht kannten!“ (John Eliot Gardiner)
Zuerst einmal überrascht es viele, wenn man feststellt: Das gesamte Oratorium hat einen absolut streng durchgeplanten Ablauf. Sogar Ersthörer erfühlen sofort den großen Bogen des Werks, etwa durch die Wiederholung der Melodie des allerersten Chorals, „Wie soll ich dich empfangen“ im allerletzten in der sechsten Kantate, hier mit dem Text „Nun seid ihr wohl gerochen“. Der Vorhang der Weihnachtshistorie, der sich im Dezember mit Pauken- und Trompetenklängen geöffnet hat, schließt sich sozusagen heute wieder.
Die Choralmelodie stammt indes gar nicht aus Bachs Feder. Der Bunzlauer Kirchenlieddichter Christoph Knoll verwendete sie für sein siebenstrophiges Lied „Herzlich tut mich verlangen nach einem sel’gen End“, das er während einer Pestepidemie 1599 schrieb, und das 1613 in den Görlitzer „Harmoniae sacrae“ abgedruckt wurde. Und die Melodie? Die komponierte Hans Leo Haßler (1564-1612) für das Liebeslied „Mein G’müt ist mir verwirret, das macht ein Jungfrau zart“ auf einen Text unbekannter Herkunft. Haßler veröffentlichte ihn in seinem Liederbuch „Lustgarten neuer deutscher Gesäng“.
Die Anfangsbuchstabender fünf Strophen (die in der Erstausgabe von 1601 extra groß abgedruckt waren) ergaben den Namen jener Jungfrau: M-A-R-I-A. Solche Wiederverwendungen von Melodien, denen neue Texte unterlegt werden, bezeichnet man als Kontrafaktur. Das Wort stammt aus dem Lateinischen: contra (gegen) + facere (machen), ein ‚Gegenentwurf‘ also.

Im Weihnachtsoratorium kommen also kontrafazierte Choräle vor, halten wir schon einmal fest. Die erwähnte Choralmelodie von „Nun seid ihr wohl gerochen“ hatte Bach ja bereits in der Matthäuspassion verwendet („O Haupt voll Blut und Wunden“), und der Gedanke liegt nahe, dass der Komponist im Weihnachtsoratorium auch den Passionsgedanken zumindest leise anklingen lassen und musikalisch – bei aller weihnachtlichen Andacht und Freude – einen großen Bogen von der Geburt zum Leiden und Sterben Jesu schlagen wollte.
Kein Geheimnis ist, dass auch die Musik der Arien und Chöre des Weihnachtoratoriums zu ganz überwiegendem Teil aus anderen, früheren Werken stammt. Musikwissenschaftler sprechen bei diesem Vorgang vom „Parodieverfahren“, bei dem es sich ja quasi auch um eine Form der Kontrafaktur handelt. Bach schrieb zahlreiche weltliche Parodien von früheren weltlichen Kantaten, ebenso geistliche von geistlichen – und, wie im Weihnachtsoratorium überwiegend, geistliche von weltlichen.
Uns ist nur ein einziges Beispiel bekannt, wo Bach eine Trauermusik für einen verstorbenen Fürsten aus einem geistlichen Werk neuschöpfte. Die Bassarie „Komm, süßes Kreuz, so will ich sagen“ aus der Matthäuspassion war beim Gedächtnisgottesdienst für Fürst Leopold von Anhalt-Köthen als „Laß, Leopold, dich nicht begraben“ (BWV 244a) zu hören. Huldigungsoder Geburtstagskantaten mit geistlichen Musikvorbildern kennen wir gar keine.
J.S. Bachs Weihnachtsoratorium
Obwohl das Weihnachtsoratorium wie viele andere Bachsche Werke, etwa die „Goldberg Variationen“, nach einem mathematisch äußerst strengen Bauplan zusammengesetzt ist, ist der detaillierte Ablauf nicht immer chronologisch. Ein Beispiel: In der zweiten Kantate hören wir den Bass mit der Aufforderung: „So geht denn hin, ihr Hirten, geht, dass ihr das Wunder seht: Und findet ihr des Höchsten Sohn in einer harten Krippe liegen, so singet ihm bei seiner Wiegen aus einem süßen Ton und mit gesamtem Chor dies Lied zur Ruhe vor!“
Danach aber hören wir nicht etwa die Hirten (die tatsächlich erst sehr viel später, nämlich in der Mitte des dritten Teils, ‚eilend‘ an der Krippe ankommen werden) und nicht den ‚gesamten Chor‘, sondern einzig Maria mit ihrer betörenden „Schlafe, mein Liebster“-Arie. Das parodierte Puzzleteilchen (das früher mit dem frivolen Text „Schmecke die Lust der lüsternen Brust und erkenne keine Schranken“ unterlegt gewesen war) schien Bach an dieser Stelle am wirkungsvollsten einzupassen.

Weltliche Kantatenvorbilder schimmern noch an anderen Stellen hervor. Erwähnt hatte ich im letzten Programmheft, dass der Beginn des Kantatenzyklus mit dem Text „Tönet ihr Pauken, erschallet, Trompeten“ unterlegt gewesen war. Eine im Vorjahr aufgeführte Geburtstagskantate einer ganz anderen Maria, nämlich der sächsischen Kurfürstin, bildete hier die Vorlage. An anderer Stelle empfinden wir, dass die Textbetonungen von „Herr, WENN die STOL-zen Fa-heinde schnauben“ gar nicht so richtig zur dort ebenfalls festlich aufstrebenden Musik passen mögen.
Hier ist die Evolutionsgeschichte tatsächlich noch ein wenig komplizierter: Die Musik hat Bach fast vollständig aus einer heute verschollenen Kirchenkantate (BWV 248a) übernommen, die ihrerseits zumindest in Teilen eine noch frühere weltliche Geburtstagskantate für den sächsischen Kammerherrn Joachim Friedrich von Flemming (1665-1740) parodiert haben könnte. Diese Theorie fußt vor allem darauf, dass der Text der Geburtstagskantate BWV 1160 („So KÄM-pfet NUN, ihr mu-hun-tern Töne“) perfekt unter den Schnaubende-FeindeChor passt.
So recycelte Bach also Musik aus früheren Glückwunsch- und Huldigungskantaten und füllte die Zwischenabschnitte des Oratoriums mit der Erzählung des Evangelisten und einer Reihe von Kirchenchorälen auf Texte von Johann Rist, Paul Gerhardt, Christoph Runge, Martin Luther, Georg Weissel, Johann Franck und anderen. Umso bemerkenswerter ist, welche musikalische Stringenz und Qualität das zusammenhängende Oratorium am Ende aufweist. Vor allem, wenn wir wissen, dass die Zeit bis zur Fertigstellung für Bach am Ende knapp wurde.
Die meisten weltlichen Vorbilder sind sehr wahrscheinlich schon im Hinblick auf ein späteres geistliches Werk mit größter Sorgfalt verfasst, davon geht die Forschung aus; aber dass die sechs Abteilungen des Weihnachtsoratoriums am Ende doch ein so schlüssiges, bewegendes Gesamtwerk ergeben würden? Das macht einen noch heute stumm vor Glück. Die das Werk und die Weihnachtszeit überspannende Botschaft verstehen und fühlen wir durch die Musik und Picanders Text: „Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.“
Zum Weiterlesen: Hans-Christoph Rademann. „Das Parodieverfahren Johann Sebastian Bachs in ausgewählten Sätzen des Weihnachtsoratoriums (BWV 248). Aufführungspraktische Konsequenzen“ (Diplomarbeit, vorgelegt im Mai 1993 an der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ Dresden).