Alle Jahre anders? | Weihnachtsoratorium mit dem Dresdner Kreuzchor
21. November 2023
In einer Musikraterunde würden die meisten Mitspieler das Werk nach einer halben Sekunde, nach dem allerersten Ton erkennen: das Paukenmotiv. Es lässt uns aufmerken, wir werden festlich eingestimmt auf die biblische Weihnachtsgeschichte. Die verschiedenen Orchesterinstrumente färben die jeweilige Szenerie und treten bisweilen in den Arien solistisch in Erscheinung, wenn sie sich miteinander und mit den Stimmsoli anmutige Dialoge liefern. Reich ist diese Erzählung an Klängen und Gefühlen. Und sie wird wohl nirgends so innig willkommen geheißen wie in den beiden großen Musikmetropolen Sachsens. Schon mehr als ein halbes Jahrhundert lang, nämlich seit 1967, singt der Kreuzchor die Kantaten 1-3 des Weihnachtsoratoriums an drei Abenden hintereinander. Drei Mal ist die Kreuzkirche dann meist komplett ausverkauft.
Seit fast dreihundert Jahren können sich die Gottesdienstbesucher und später auch die Hörer im Konzertsaal nun schon an dieser klingenden Weihnachtsgeschichte erfreuen, deren Vorbild in den Weihnachtshistorien des 17. Jahrhunderts zu suchen ist. Zwischen dem ersten Weihnachtsfeiertag 1734 und dem Epiphaniasfest 1735 erklang sie in Teilen erstmals in der Leipziger Nikolai- und der Thomaskirche. Die musikalischen Teile hatte Bach nur teilweise neu komponiert; zum großen Teil fügte er vorher für weltliche Anlässe entstandene Stücke zusammen. Die Texte entstammten der Bibel, die Choraltexte gehen vor allem auf Paul Gerhardt, Martin Luther und Johannes Rist zurück; und bei den freien Textstücken bediente sich Bach vielleicht bei seinem Textdichter Picander, genau wissen wir das nicht mehr. Wo die sechs einzelnen Kantaten ursprünglich in verschiedenen Gottesdiensten erklangen, wird das Oratorium heute meist in zwei Aufführungsabende aufgeteilt; der eine im Dezember, der andere um den Dreikönigstag herum.
Erstaunlich ist dabei, wie wandlungsfähig das Oratorium ist. Welche Farben in den Vordergrund rücken, hängt von der „Beleuchtung“ der Musik durch die Aufführenden ab. Chor und Orchester können durch schiere Mächtigkeit betören; es sind aber auch Aufführungen mit Solistenquartett belegt (auch zu Bachs Zeiten, so eine musikhistorische Lesart, könnte das so gewesen sein, zumindest war der Chor viel kleiner als heute). 1936, lesen wir in dem damaligen Programmblatt der Aufführung in der Kreuzkirche, wurde „das Weihnachtsoratorium (…) erstmalig in neuer Gestaltung aufgeführt. Das Evangelium wird durch den Liturgen vom Altarplatz (Begleitung durch das 1. Positiv) ausgesungen, während die übrige Musik des Werkes von der Chorempore aus geboten wird.“ In den fünfziger Jahren, vor einer Konzertreise an den Bremer Dom, schrieb Kreuzkantor Rudolf Mauersberger dem Domkantor: „Sie entsinnen sich vielleicht auf unsere früheren Aufführungen der Weihnachts-Kantaten, nämlich auf die Aufführung der Kantaten 1-3 und manchmal noch einiger Stücke aus Kantate 4 und 5. In den letzten Jahren sind wir dazu übergegangen, es so zu machen, wie man es seit langem in Leipzig tat und wohl auch in Berlin, nämlich, dass wir nur Kantate 1-3 strichlos aufgeführt haben. (…) Außerdem werden Sie wahrscheinlich eine Sopranistin unter Ihren Solisten verpflichtet haben, die wir selbstverständlich auch gern wieder nehmen. Ich möchte lediglich anfragen, ob Sie etwa auch eine Vorliebe für die Besetzung der Sopranpartie mit einer Knabenstimme haben? In Dresden machen wir es jedenfalls so.“
In der Zwischenzeit hat sich in Dresden wieder durchgesetzt, die Sopranpartie von einem Frauensopran singen zu lassen. Die Dresdner Philharmonie, die die Aufführungen des Chors meist begleitet, füllt den Kirchenraum dabei aus; der große Chor und die Solisten können ihre Stimmen in der Abfolge von Arien, Rezitativen, Chorälen und großen Chören ohne Mühe verströmen lassen. Diese Dresdner Lesart des Werkes lässt sich aus der Geschichte des Kreuzchores gut ableiten. Es ist indes reizvoll, Kreuzkantor und Chor Jahr für Jahr durch das Oratorium zu begleiten und dabei auch manche Änderung zu Ausdeutungen früherer Jahre zu entdecken. Nicht nur deutlich hörbar, sondern auch sichtbar sind die Vorstellungen von Martin Lehmann, was die Orchesteraufstellung betrifft. Die Violinen agieren links und rechts des Dirigenten, die Bratschen sind neben die ersten Geigen gerückt, hinter ihnen agieren Pauke und Trompeten. Continuo-Orgel und Cembalo sind aus der Mitte, in der ein Lautenist positioniert ist, an den Rand des Altarraums gerückt. Der freundlich-warme, von den tieferen Registern grundierte Klangfluss ist einem ausbalancierten Dialogisieren gewichen. Jedenfalls war das letztes Jahr so – und vielleicht entdecken Sie dieses Jahr ja schon wieder ganz neue Ideen des Kantors, was Aufstellung und Klangvorstellung betrifft? Es gibt ja so einiges zu überlegen: Wie sind die Strophen der Choräle gegliedert? Schwingen die Chöre weich nach, oder drängen sie festlich-jubilierend dem strahlenden Weihnachtsstern entgegen? Oder die Dynamik des anbrechenden Morgenlichts in der zweiten Kantate: wird es mit einer blassen Morgenröte aufziehen oder gleißend alles überstrahlen?
So beginnt denn die Advents- und Weihnachtszeit nicht mit den Lebkuchen, die jährlich früher und früher in den Supermärkten aufzutauchen scheinen; dem Anzünden der ersten Adventskerze oder mit dem Anschneiden des Stollens. Nein, für viele Dresdner beginnt sie Jahr für Jahr mit der Vorfreude auf ein neues Weihnachtsoratorium in der Kreuzkirche. Genauer mit: „Jauchzet, frohlocket!“.
Martin Morgenstern